Rolf Müller
Ein alter Mann erinnert sich
Im Herbst 1950 hat mir der Herr Jesus durch sein Wort während einer Evangelisationswoche das Herz aufgetan und Glauben geschenkt. Im Mai 1951 wurde ich als Mitglied in die Landes-kirchliche Gemeinschaft aufgenommen.
Die Gemeinschaft ist bis heute meine geistliche Heimat geblieben. Dort habe ich viele Glaubensgeschwister gefunden. In der Gemeinschaft habe ich mich auf verschiedene Weise eingebracht und mitgearbeitet. Es gab Höhen und Tiefen in meinem Glaubensleben, aber der feste und bleibende Grund waren der Herr Jesus Christus und das Wort Gottes, die Bibel.
Unsere Jugendstunden in den 1950er Jahren waren wirkliche Bibelstunden. Ich erinnere mich, dass wir einmal einen Bruder aus dem „Westen“ als Gast in unserer Jugend-Bibelstunde hatten. Der sagte: „Das wäre bei uns undenkbar, eine ganze Stunde lang Bibelarbeit zu machen. Spätestens nach 20 Minuten steht bei uns Sport und gesellige Unterhaltung auf dem Programm, andernfalls würde keiner mehr in die Jugendstunde kommen.“ Wir jungen Leute damals fanden die Beschäftigung mit der Bibel alles andere als langweilig. Das Wort Gottes stand bei uns im Mittelpunkt.
Auch persönlich habe ich sofort, nachdem ich zum Glauben kam, angefangen die Bibel zu lesen und bis heute gehört das Wort Gottes zu meinem Leben.
Ich will nicht behaupten, dass ich damals alles in der Bibel gleich verstanden hätte, und ich verstehe auch heute manches in der Bibel noch nicht. Ich halte es mit Mark Twain, der gesagt hat: „Nicht die Bibelstellen, die ich nicht verstehe, bereiten mir Bauchschmerzen, sondern die Bibelstellen, die ich verstehe.“ Durch meine ständige Beschäftigung mit dem Wort Gottes wurde ich im Glauben gestärkt, bin ich im Glauben gewachsen.
Wenn ich zurückblicke, scheint unser Glaubensleben damals von einer viel zu engen Auffassung von Nachfolge und Heiligung geprägt gewesen zu sein. Wir waren nämlich überzeugt, dass sich ein Christ klar von der Welt unterscheiden sollte. Wir wussten, dass unser Heil allein aus Gnade durch den Tod des Herrn Jesus Christus am Kreuz begründet war. So stand es im Wort Gottes und das glaubten wir. Aus Dankbarkeit für unsere Erlösung wollten wir dem Evangelium gemäß leben. Das Wort Gottes war das Fundament unseres Glaubens. So gesehen, waren wir fast alle damals Fundamentalisten im besten Sinne des Wortes. Dieser Begriff ist heute zu einem Schimpfwort verkommen. Man belächelt und verspottet die Christen, die die Bibel als Wort Gottes wörtlich nehmen. Heute glaubt man, ein Christ müsse sich der Welt so weit wie möglich anpassen, um Menschen für den Glauben zu gewinnen.
In den 1960er Jahren stand in der Gemeinschaftsbewegung das Wort Gottes im Mittelpunkt. Die Bibel hatte höchste Autorität, an ihr wurde alles gemessen.
Ich erinnere mich noch gut, als die Thesen Rudolf Bultmanns an der Basis der Gemeinschaft bekannt wurden. Da ging ein Aufschrei durch die gläubigen Gemeinschaftskreise. Für die Jüngeren zur Erklärung: Bultmann vertrat die These, dass man dem modernen Menschen die Wunder der Bibel nicht mehr zumuten könne. Er bezeichnete die Engel als „himmlisches Federvieh“. Er wollte die Bibel „entmythologisieren“, das heißt, alles, was dem menschlichen Verstand widersprach, aus der Bibel entfernen, einschließlich der Auferstehung des Herrn Jesus. Bultmann behauptete, Jesus sei nicht wirklich auferstanden; er lebe im Kerygma, in der Verkündigung.
Der Brüderrat in unserer Gemeinschaft in Haßlau wandte sich an den Landesverband des Gemeinschaftswerkes und forderte eine Stellungnahme der verantwortlichen und leitenden Brüder. Es kam zu einem Besuch des damaligen Inspektors Johannes Schubert-Herberholz, der die Sachlage mit den Brüdern unserer Gemeinschaft erörterte und den Standpunkt des Landesverbandes darlegte.
Ich befürchte, was damals die Gemüter erregte, würde heute kaum jemanden interessieren. Heute ist es fast normal, die Aussagen und die Worte der Bibel anzuzweifeln. Die „historisch-kritische Methode“, die an allen christlichen Ausbildungsstätten gelehrt wird, hat ihr zerstörerisches Werk getan. Die Relativierung des Wortes Gottes findet in gemäßigter Form auch in unseren Gemeinschaften immer mehr Zustimmung.
In den ersten 20 Jahren meines Glaubenslebens war das Vertrauen in die Bibel normal und gehörte ganz selbstverständlich zum Leben als Christ. Heute ist man mit dieser Einstellung ein „Ewig-Gestriger“ und wird im besten Fall belächelt. Die Bibel hat auch im Gnadauer Verband an Autorität verloren. Man lebt und baut Gemeinde nach Prinzipien, die sich nicht im Wort Gottes finden.
Es hat ein Wandel statt-gefunden, eine Veränderung, weg vom Wort Gottes, weg von Jesus Christus, weg vom Wort. Die biblische Lehre bleibt auf der Strecke. Die Bibelkenntnis hat in unseren Gemeinschaften in einer erschreckenden Weise abgenommen. Man weiß nicht mehr, was Gott in seinem Wort niedergeschrieben hat.
„Wenn dein Wort nicht mehr soll gelten, worauf soll der Glaube ruhn? Mir ist nicht um tausend Welten, aber um dein Wort zu tun. „
Dem wird wohl kaum ein gläubiger Christ widersprechen. Aber ist das auch unsere Haltung in der Praxis? Nur das Wort Gottes hat die Verheißung, Glauben zu wirken und Glauben zu stärken. Statt zu fragen: Was lehrt die Bibel? Was will Gott dem Menschen sagen?, überlegt man: Was kommt an? Was möchten die Leute hören? Der Apostel Paulus schreibt dem Timotheus: „Predige das Wort!“
Wenn wir vom Glauben an eine irrtumslose Bibel überzeugt sind, müssen wir auch den Mut haben, für unsere Überzeugung einzutreten. Unser Zeugnis für Jesus Christus wird in dem Maß schwächer, wie unser Zweifel an der Wahrheit der Bibel zunimmt.
Meine Erfahrungen mit dem Wort Gottes kann ich mit einem Satz zusammen-fassen: „Die Bibel ist zuverlässig“. Oder um es mit den Worten des Apostels Paulus zu sprechen: „Ich glaube allem, was geschrieben steht“.
Ich bin kein Held. Von Natur aus bin ich feige. Ich liebe weder Auseinandersetzungen noch Streit. Ich wünsche mir, von anderen, akzeptiert, geliebt und wertgeschätzt zu werden. Aber ich bin überzeugt, dass Treue zu Jesus Christus und zum Wort Gottes wichtiger ist als die Zustimmung der Menschen. Nirgendwo außerhalb der Heiligen Schrift finden wir die Wahrheit. Als Christen glauben wir nicht an irgendetwas, sondern an die Wahrheit der Heiligen Schrift. Wenn die Bibel nicht das Wort Gotts ist, haben wir nichts. Dann wäre unser Glaube ein Hirngespinst. Aber die Bibel ist Gottes Wort. In ihr hat uns Gott alles gesagt, was wir zum Leben und zur Gottseligkeit brauchen. Wir haben Gottes Wort, das ist unser Stab, das ist unsere Sicherheit, das ist unser Hafen. Die ganze Welt mag voll Unruhe und Verwirrung sein, wir erschrecken nicht. Wir haben sein Wort. Wir lesen die Heilige Schrift. Darauf verlassen wir uns.
„Dein Wort ist wahr und trüget nicht und hält gewiss, was es verspricht im Tod und auch im Leben.““
Diesen Beitrag hat der alte Mann ca. 1991 geschrieben. Er ist ihm jetzt nach 30 Jahren wieder in die Hände gekommen. Hat sich seitdem in den evangelikalen Gemeinden etwas wesentlich verändert? Ist es aufwärts oder abwärts gegangen? Der alte Mann kann nur von seinem Umfeld ausgehen. Dabei hat er die folgenden Beobachtungen gemacht. Er musste schmerzhaft erfahren: Ja, die Zeiten ändern sich!
Es wurde ihm erklärt, das Wort Gottes müsse den Leuten schmackhaft gemacht werden. Man müsse das Evangelium mit allerlei Zutaten würzen und anreichern. Es sei antiquiert und fad und passe nicht mehr in die heutige Zeit. Man könne es den Leuten nicht zumuten. Und so verwässert man eben den „starken Freudenwein“ des Evangeliums zu einer süßlichen Limonade.
Gottesdienste tragen heute vielfach verschiedene Bezeichnungen. Sie nennen sich „Der etwas andere Gottesdienst“, „Beziehungsweise“ oder ähnlich. Man weiß nicht genau, was sich hinter dem Namen verbirgt und erlebt so manche Überraschung.
Es macht Schule, dass der gelesene Bibeltext mit Musik unterlegt wird. Kürzlich hat man, während ein längerer Bibeltext aus Römer 12 vorgelesen wurde, eine Frau an einer Tafel ein Bild zeichnen lassen. Was will man damit bezwecken? Will man damit das Wort Gottes aufwerten oder will man vom Wort ablenken? Der alte Mann kann sich noch an Gottesdienste erinnern, wo man sich beim Verlesen des Evangeliums von den Plätzen erhob. Das war nicht nur ein äußeres Zeichen der Achtung vor dem Wort Gottes.
Weil man das Wort Gottes nicht mehr für relevant hält, neigt man immer mehr dazu, die alten erprobten Glaubenslieder auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen. Sie werden durch moderne Lieder ersetzt, die ihre Bewährung erst noch erweisen müssen.
Als meine Frau und ich 60 Jahre alt wurden, haben unsere Kinder uns eine Reise nach Lanzarote geschenkt. Es war eine Jugendbibelrüste mit Egmond Prill. Wir hatten mit den jungen Leuten trotz des Altersunterschiedes eine gesegnete Zeit. Als wir an einem Abend ein Wunschliedersingen erlebten, wünschten wir uns das Lied „Mein schönste Zier und Kleinod bist auf Erden du, Herr Jesus Christ.“ Die jungen Leute kannten das Lied nicht. Egmond sorgte dafür, dass es trotzdem gesungen wurde. Und siehe, es ging und fand sogar den Beifall der meisten Jugendlichen.
In unserer Gemeinde in Haßlau werden die herkömmlichen Liederbücher immer öfter von vervielfältigen Zetteln abgelöst oder die Texte werden an die Wand projiziert. Häufig werden diese Lieder in englischer Sprache gesungen, da werden die Texte nicht von jedem verstanden, was nicht unbedingt ein Nachteil sein muss. Die Musik der Lieder geht in die Füße, nicht so sehr ins Herz.
In einem Gottesdienst, der von einer „Band“ begleitet wurde, die ausschließlich unbekannte moderne Lieder sang, entschuldigte man sich am Ende, dass man auch ein Lied aus dem Gesangbuch spielte. Man wies auf das Alter des Liedes hin, meint aber, man könne so ein Lied (Herz und Herz vereint zusammen) auch einmal ausnahmsweise singen und bat um Verständnis.
Verzeihung, ihr jungen Freunde, welches Gebot verbietet das denn und wer har es erlassen? Beginnt das Christentum erst heute mit euch? Hat Gott seinen Segen nur auf zeitgenössische Lieder gelegt? Hat Gott angeordnet, dass der Liederschatz der weltweiten Christenheit jetzt vermodert ist und auf den Schrottplatz geschmissen werden muss? Segnet Gott nur neue Lieder?
Der alte Mann möchte darauf aufmerksam machen, dass nicht jeder, der graue Haare hat, ein Esel ist. Alter schützt nicht vor Torheit, aber auch Jugend garantiert nicht automatisch für Klugheit. Man muss viel lernen, um zu erkennen, dass man wenig weiß. Gott hat zu allen Zeiten seine Leute gehabt, die sein Wort in der Kraft des Heiligen Geistes weitergegeben haben. Nicht alle Lieder sind gleichermaßen wertvoll. Nicht alle alten, aber auch nicht alle neuen Lieder sind schriftgemäß.
Eine Weihnachtsfeier in einer Gemeinde hatte statt einer Wortbetrachtung eine von Kindern dargestellte Legende im Mittelpunkt. Das Besondere an dieser Feier war, dass keine bekannten Advents – oder Weihnachtslied gesungen wurden.
Die Tische waren mit Tannenzweigen dekoriert, es gab Kaffee und Kuchen und rote Kerzen brannten. Kein Hinweis auf den gekommenen und wiederkommenden König. Dann wurde doch noch ganz am Schluss das Lied „O du fröhliche, o du selige gnadenbringende Weihnachtszeit“ angestimmt. Der Liedbegleiter brachte durch sein eigenwilliges Spiel den gemeinsamen Gesang zum Erliegen. Dabei wäre ein so bekanntes Lied auch ohne Begleitung singbar gewesen. So ging die Feier kläglich zu Ende und die Besucher mit Tränen in den Augen nach Hause. Es waren keine Freudentränen.
Wie sich die Zeiten ändern! Wie schön und köstlich waren die Versammlungen in der Gemeinde, als das Wort Gottes im Mittelpunkt stand. Als auch ältere Geschwister ab und zu ein Lied mitsingen konnten, weil es bekannt war.
Wie schön und lieblich war es, als Brüder und Schwestern, Alte mit den Jungen einträchtig der Predigt des Wortes lauschten und nicht jede zweite Darbietung im Gottesdienst vom zaghaften Beifall der Besucher unterbrochen wurde. Als die Gottesdienste noch nicht nach besucherfreundlichen Marketing-Methoden gestaltet wurden und trotzdem gut besucht waren. Als noch mehr Gläubige zur Gemeinde hinzukamen als austraten.
Wie schön und lieblich war es, als die Brüder*innen noch Schwestern genannt werden konnten, ohne dass man sofort eine Abwertung der Frau dahinter vermutete. Man kann traurig sein und sich den ganzen Tag über den Zustand der Gemeinde ärgern, aber verpflichtet ist man dazu nicht. Wir wissen, wer der Weg ist, wir wissen, wer die Wahrheit ist, wir wissen, wer das Leben ist. Was haben wir auf den Nebenwegen zu suchen? Was treibt uns weg von der lebendigen Quelle zum ab gestandenen Wasser der Zisterne?
Werden in Zukunft unsere Gemeinden ihre Orientierung ohne Kompass suchen? Eine Abkürzung ist oft der schnellste Weg zu einem Ort, den man gar nicht aufsuchen wollte. Wir müssen als Gemeinde wachsam sein. Schlafende Hühner holt der Fuchs. Wenn wir das Dach nicht Reparieren, müssen wir ein neues Haus bauen. Allein die Gegenwart Christi gibt der Gemeinde einen Sinn. Da kann nach außen alles noch so hübsch erscheinen, eine Gemeinde ohne Christus ist wie ein Brautkleid ohne Braut.
Der alte Mann ist sich bewusst, dass er mit seinen Gedanken nicht bei allen Glaubensgeschwistern auf Verständnis rechnen kann. Er wird als Nestbeschmutzer und bösartiger liebloser Nörgler angesehen. Wächterdienst gehört für viele nicht zur Gemeindearbeit, man verharmlost lieber die Zustände und deckt alles mit dem Mantel einer unbiblischen Liebe zu. Aber wird nicht gerade die Liebe warnen und auf geistliche Gefahren und Verführungen hinweisen?
Der alte Mann befindet sich auf der letzten Wegstrecke. Sein Lauf wird bald vollendet sein. Er ist traurig über manche Wege, die heute von der Gemeinde Jesu eingeschlagen werden. Die Ansichten des alten Mannes passen nicht in die Zeit. Die Zeiten verändern sich. Am Ende ist es wichtig, dass wir in die Ewigkeit passen.
Mit freundlicher Genehmigung
Autor: Rolf Müller