Rolf Müller
Richten heißt beurteilen, urteilen, Recht sprechen. Bevor ein Richter das Urteil spricht, prüft er die Fakten. Er hört Zeugen und sammelt Beweise. Ist der Beruf des Richters unbiblisch? Ist Richten oder Beurteilen in jedem Fall unzulässig?
„Richtet nicht nach dem Augenschein, sondern fällt ein gerechtes Urteil.“ (Joh. 7,24).
Der Herr Jesus verlangt von uns ein biblisches Urteilsvermögen. Das ist geboten und nicht verboten. Verboten ist ein pharisäerhaftes Richten, das den Splitter im Auge des Bruders bemängelt und dabei des Balkens im eigenen Auge nicht gewahr wird.
Der alte Mann erinnert sich an eine Zeit, in der die Wahrheit wichtig war. Dabei kam manchmal die Liebe zu kurz. Recht zu bekommen war entscheidender als ein freundlicher liebevoller Umgang. Heute sind wir in die entgegengesetzte Richtung abgedriftet. Die Liebe ersetzt die Wahrheit. Um der lieben Einheit willen ist die Liebe wichtiger geworden als die biblische Lehre. Wir tolerieren lieber eine abweichende Lehre, bevor wir riskieren, uns unbeliebt zu machen. Wir brauchen geistliches Urteilsvermögen. Die Gemeinde muss sich von der Welt unterscheiden.
Die Gemeinde schwimmt in der Welt wie ein Schiff auf dem Meer. Wenn das Meer in das Schiff eindringt, droht Gefahr. Der alte Mann befürchtet, dass das Wasser schon ins Schiff eingedrungen ist. Wie lange wird sich das Schiff noch über Wasser halten können?
Die Gemeinde soll die Welt beeinflussen. Oft wird die Gemeinde allerdings von der Welt inspiriert. Sie macht sich die Werte der Welt zu Eigen. Sie verdrängt, dass sie nicht von der Welt ist. Die Gemeinde soll sich von der Welt unterscheiden, aber nicht in ihr aufgehen.
Der alte Mann ist der Ansicht, dass wir die Fähigkeit, die Welt zu beurteilen, verloren haben. Wir können uns selbst nicht einmal mehr beurteilen. Uns ist der Maßstab abhanden gekommen. Die Wahrheit ist verschwunden und wir haben es nicht einmal gemerkt. Vielen Christen ist es geradezu peinlich, allgemeingültige Wahrheiten zu vertreten. Wir scheuen uns, von der Verlorenheit der Welt und der Rettung allein durch Jesus zu reden. Wir sind zu ängstlich, den Zustand der Gemeinde zu beurteilen. Wir sagen: „Wer bist du, dass du richtest?“
Der alte Mann glaubt nicht, dass der Herr Jesus uns auffordert, unser Urteilsvermögen über Bord zu werfen. Ebenso wenig verlangt er von uns, alle geistlichen Maßstäbe aufzugeben. Die Bibel fordert uns an vielen Stellen zum Prüfen auf. Wir müssen jede Lehre beurteilen, ob sie mit der Schrift übereinstimmt. Falsche Lehrer können der Gemeinde großen Schaden zufügen. An dieser Stelle dürfen wir es uns nicht leisten, zu rufen: „Richtet nicht!“
Der Apostel Paulus wirft den Korinthern vor, dass sie Streitfälle in der Gemeinde vor ein weltliches Gericht bringen, statt die Ältesten der Gemeinde entscheiden zu lassen. Sie sollen sich schämen, weil sie unfähig sind, gerechte Urteile abzugeben.
Dem alten Mann ist klar, dass wir nicht die falschen Dinge aus falschen Motiven heraus richten dürfen. Wir sollten uns nicht einbilden, heiliger als heilig zu sein. Wir haben keinen Auftrag, andere zu verdammen. Das ist Gott vorbehalten.
Aber der Herr Jesus sagt nicht, dass alles Richten falsch ist. Prüfen und geistlich zu unterscheiden gehört zum christlichen Leben. Natürlich ist keiner von uns perfekt. Wir können irren. Deshalb haben wir allen Grund, demütig zu sein.
Der Herr Jesus veranschaulicht das humorvoll mit dem Vergleich vom Splitter und Balken im Auge. Der alte Mann stellt sich vor, wie jemand mit einem Balken im Auge durch die Gemeinde tappt, um einen zu finden, dem er den Splitter entfernen kann. Das ist wirklich komisch! Der Herr Jesus kennt unser menschliches Wesen. Er weiß, dass die Sünde bei uns zu einer verzerrten Wahrnehmung führt. Der Splitter im Auge des anderen erscheint uns wie ein Balken. Der Balken im eigenen Auge kommt uns wie ein kleiner Splitter vor.
Der alte Mann überlegt, wenn er ein Urteil fällen muss, welche biblische Wahrheit verleugnet wird. Welche Wahrheit wird außer Acht gelassen oder durch etwas anderes ersetzt? Geistlich zu unterscheiden ist wichtig für uns persönlich und für unsere Gemeinde.
Mit freundlicher Genehmigung
Autor: Rolf Müller