Der alte Mann und die Salbung in Bethanien (Johannes 12, 1-8)

Rolf Müller

Sechs Tage vor Ostern kam Jesus von Ephrem wieder nach Bethanien. Man hatte dem Herrn ein Mahl bereitet. Es fand im Haus Simons, des Aussätzigen statt. Er war von Jesus geheilt worden. Es machte ihm große Freude, den Herrn und seine Jünger bewirten zu dürfen. Auch Lazarus, der „Verstorbene“, nahm am Mahl teil. Martha, die Eifrige und Tatkräftige, half bei der Zubereitung der Speisen.

Dem alten Mann fällt auf, dass auch Maria, die Stille und Schüchterne, anwesend war. Sie ahnte, dass der geliebte Herr und Meister nicht mehr lange unter ihnen sein würde. Sie wollte ihm noch einmal ihre ganze Liebe zeigen. Sie trat an den Herrn heran und zerbrach ein Glas, das mit köstlichem Nardenöl gefüllt war. Dieses Öl war selten und wertvoll. Sie goss es über das Haupt des Herrn und seine Füße. Das Kostbarste war ihr nicht kostbar genug für den Herrn. Das ganze Haus ward voll von dem Geruch der Salbe.

Der alte Mann merkt, dass Maria ihr ganzes Herz in ihre Tat gelegt hat. Ihr Meister ist es wert, Ehre und Anbetung zu empfangen. Marias Tun war der Ausdruck ihres Glaubens, ihrer Liebe und ihrer Hoffnung. Sie musste ihrem Herzen freien Lauf lassen. Sie ahnte das bevorstehende Leiden und Sterben des Herrn. Jesus selbst hatte mehrmals davon gesprochen. Als Maria den Herrn salbte, bildete sie sich nicht ein, etwas Außergewöhnliches zu tun. Sie erwartete kein Lob. Sie folgte einfach dem Drang ihres Herzens.

Der alte Mann wundert sich nicht, dass Marias Handlung auf Widerspruch stieß. Judas Ischarioth hatte kein Verständnis für Maria. Entrüstet rief er: „Was soll dieser Unrat? Warum ist diese Salbe nicht verkauft für 300 Denare und den Armen gegeben?“ Judas wirft sich zum Richter über Maria auf. Er schätzt den Wert der Salbe richtig ein. Aber für den Wert der Liebe, die hinter Marias Handeln stand, war er blind. „So eine Verschwendung!“ Das klingt auf den ersten Blick vernünftig. Man hätte die Salbe zu Geld machen und den Erlös den Armen geben können. Damit hätte man manche Träne trocknen können. Viele stimmten dem Judas zu und sprachen ebenfalls von einer nutzlosen Verschwendung.

Dem alten Mann sind auch heute Politiker bekannt, die den Reichtum anderer verteilen wollen. Sie nennen das Gerechtigkeit. Sie meinen es sicher gut. Sie wollen die Armut beseitigen. Tatsache ist, dass alle guten Vorsätze stets an der Sündhaftigkeit des Menschen scheitern. Auch bei Judas Ischarioth war nicht die Liebe zu den Armen das Motiv. „Das sagte er aber nicht, dass er nach den Armen fragte, sondern er war ein Dieb und hatte den Beutel und trug, was gegeben ward.“ Seine Liebe zu den Armen war nur ein Vorwand. Es war die Maske, unter der er seinen Geiz verbarg. Er hätte das Geld für die Salbe gern in die eigene Tasche gesteckt.

Der alte Mann kann verstehen, dass der Tadel des Judas der Maria wehtat. Vielleicht dachte sie sogar, er sei berechtigt, zumal er aus dem Kreis der Jünger kam. Alle schauten auf Jesus. Was würde er dazu sagen? „Lasst sie in Frieden! Sie hat ein gutes Werk an mir getan.“ Der Herr lobt Maria. „Arme habt ihr allezeit bei euch, mich aber habt ihr nicht allezeit.“ Armen könnt ihr jederzeit Gutes tun. Ich bin nicht mehr lange hier. „Dass sie das Wasser auf meinen Leib gegossen hat, hat sie getan, dass man mich begraben wird.“ Maria war dem Tag seines Begräbnisses zuvorgekommen. Im Grab war keine Zeit mehr, ihn zu salben. Ohne es zu wissen, hat Maria den Herrn zum Tod gesalbt. Das soll unvergessen bleiben. „Wo dieses Evangelium gepredigt wird in der ganzen Welt, da wird man auch sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie getan hat.“

 

Es kennt der Herr die Seinen und hat sie stets gekannt,
die Großen und die Kleinen in jedem Volk und Land;
er lässt sie nicht verderben, er führt sie aus und ein,
im Leben und im Sterben sind sie und bleiben sein.

Er kennt sie an der Liebe, die seiner Liebe Frucht
und die mit lauterm Triebe ihm zu gefallen sucht,
die andern so begegnet, wie er das Herz bewegt,
die segnet, wie er segnet und trägt, wie er sie trägt.

(Philipp Spitta).

Mit freundlicher Genehmigung
Autor: Rolf Müller