Der wandernde Teppich

Rolf Müller

Wir waren in unsere Wohnung eingezogen und begannen, uns gemütlich einzurichten. Der Fußboden im Wohnzimmer war mit Teppichbelag ausgelegt, aber wir vermissten eine wohnliche Atmosphäre. Wir kauften einen Teppich, der für unsere Ansprüche „maßgeschneidert“ war. Er hatte die gewünschte Größe, entsprach unseren Preisvorstellungen und brachte mit seiner weinroten Farbe und dem ansprechenden Muster Wärme in unser Heim.

Bisher kannten wir nur Kalorien. Das sind diese kleinen Tierchen, die heimlich über Nacht die Kleider im Kleiderschrank enger nähen, so dass sie nicht mehr passen. Von eigenwilligen Teppichen hatten wir keine Ahnung, wir sollten aber bald entsprechende Erfahrungen machen.

Es klingt unglaublich, aber unser Teppich hatte die Angewohnheit, zu wandern. Er wanderte nicht kreuz und quer, sondern immer in die gleiche Richtung, vom Sofa hinüber zur Schrankwand. Das geschah langsam und fast unmerklich. Er wanderte, obwohl Stühle und auch der gewichtige Wohnzimmertisch auf ihm standen. Über Nacht erreichte er nicht nur die Schrankwand, sondern er kletterte sogar an ihr in die Höhe. Er wollte hoch hinaus.

Wir wollten es zunächst nicht wahrhaben. Aber es war eine Tatsache. Wir besaßen einen „wandernden Teppich“. Wir zogen ihn am Morgen wieder zum Sofa zurück, aber einen Tag später hing er wieder an der Schrankwand. Was uns am Anfang verwunderte und erstaunte, wurde mit der Zeit ärgerlich. Wir holten uns Rat bei handwerklich begabten Freunden.

Sie erklärten uns, dass es an der Unterseite unseres Teppichs liegt, die sich nicht mit dem darunterliegenden Belag verträgt und deshalb auf Wanderschaft gehen würde. Ich konnte diese logischen Ausführungen zwar nicht ganz begreifen und nachvollziehen, aber wir befolgten ihre Ratschläge, wie man Abhilfe schaffen könne.

Es waren unangemessene Vorschläge dabei, die wir ablehnten. Wir wollten nicht den gesamten Bodenbelag unter dem Teppich herausreißen und durch anderen Belag ersetzen. Das fanden wir unverhältnismäßig. Man riet uns, an der Unterseite des Teppichs zweiseitig klebende Streifen anzubringen. Das probierten wir, es brachte aber keinen Erfolg. Der Teppich stellte das Wandern nicht ein. Die Ratschläge unserer handwerklich begabten Freunde waren wirkungslos.

Wir hatten uns schon fast damit abgefunden, unseren Teppich jeden Tag in seine Ausgangslage zurückziehen zu müssen, als mir eine verrückte, aber geniale Idee kam. Meine Frau schreckte davor zurück und riet mir ab davon. Nach über 60 gemeinsamen Ehejahren konnte sie meine Fähigkeiten nüchtern einschätzen und sie hielt nicht viel davon.

Allem Widerstand zum Trotz setzte ich meine Idee in die Tat um. Und das Experiment gelang! Seit ungefähr 30 Jahren bleibt unser Teppich auf dem Boden! Meine Freunde habe ich nicht mit meiner Methode bekannt gemacht, obwohl 30 Jahre eine Erfolgsgarantie sind. In der Hochachtung meiner Frau bin ich gestiegen.

Ursprünglich hatte ich daran gedacht, meine Erfindung als Patent anzumelden, habe aber dann wieder Abstand genommen. Wenn Sie jetzt erwarten, dass ich mein Rezept verrate, muss ich Sie enttäuschen. Ich denke gar nicht daran. Ich will nicht wegen meiner simplen Idee verlacht und verspottet werden. Sie hat 30 Jahre funktioniert, das genügt.

 

Mit freundlicher Genehmigung
Autor: Rolf Müller